top of page

Geliehene Macht

  • Autorenbild: Nicole Gerecht
    Nicole Gerecht
  • 2. Okt.
  • 3 Min. Lesezeit

In Unternehmen halten wir selten „eigene“ Macht in den Händen. Meist verwalten wir Leihgaben: Budgets, Titel, Entscheidungsvollmachten. Alles kann uns morgen entzogen werden. Und doch verwechseln wir diese geliehene Macht nur allzu gern mit unserer Identität.


Wer sind wir, wenn die Rollen fallen? Was bleibt übrig, wenn der Titel von der Visitenkarte verschwindet oder die Hierarchie sich neu ordnet? Genau hier offenbart sich der Kern: Macht ist kein Besitz, sie ist immer geliehen und sie zeigt uns mehr über unsere Strukturen als über uns selbst.



Macht, Autorität, Rolle: eine notwendige Unterscheidung


  • Macht ist die Fähigkeit, Verhalten zu beeinflussen oder Entscheidungen durchzusetzen.

  • Autorität ist die anerkannte Legitimation dieser Macht, sie stützt sich auf Strukturen oder Vertrauen.

  • Rollen sind Bündel aus Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Entscheidungsrechten. Sie verleihen uns Autorität, solange wir sie ausfüllen.


Damit wird deutlich: Rollen sind die „Gefäße“, durch die Macht geliehen wird. Ohne Rolle keine Autorität und ohne Anerkennung keine Macht.



Was geliehene Macht bedeutet


Soziologische Klassiker wie Max Weber (1922/1978) beschrieben drei Quellen von Autorität:

  • legitim (z. B. Amtsinhaber:innen),

  • traditionell (z. B. durch Gewohnheit),

  • charismatisch (durch persönliche Ausstrahlung).


Nur Charisma haftet unmittelbar an der Person. Die anderen beiden sind Rollen-geliehen.


Auch die Sozialpsychologen French und Raven (1959) zeigen, dass viele Machtquellen kontextabhängig sind:


  • Legitimation, Belohnung, Zwang: Sie wirken nur, solange Strukturen sie absichern.

  • Expertenmacht und Referenzmacht: Sie bleiben eher personengebunden, auch wenn Rollen wechseln.


Kurz gesagt: Geliehene Macht ist diejenige, die wir nur „auf Kredit“ durch unsere Rolle haben.



Die Verwechslung


Problematisch wird es, wenn Menschen diese Leihgabe mit sich selbst verwechseln. Wenn sozusagen Titel zum Ego-Korsett wird. Wenn Meetings zu Revierkämpfen verkommen, weil Macht als persönlicher Besitzstand missverstanden wird.

Geliehene Macht hat eine Tücke: Sie fühlt sich echt an. Und gerade deshalb verteidigen wir sie, obwohl sie nicht uns gehört.



Die Chance und ihre Bedingungen


Sobald wir anerkennen, dass Macht immer geliehen ist, entsteht Raum für Bewegung:


  • Individuell: Rollenwechsel werden leichter, weil Identität nicht an Positionen hängt.

  • Organisational: Unternehmen können Macht sichtbar verleihen und genauso sichtbar entziehen.

  • Strukturell: Verantwortung wird Ressource statt Besitz.


Das kann Organisationen widerstandsfähiger machen, wenn Entscheidungsrechte, Übergaben und Eskalationswege klar geregelt sind.

Und: Es gibt Situationen, in denen Personalmacht unverzichtbar bleibt; in Krisen etwa, wenn Charisma, Mut und Überzeugungskraft entscheidend sind, nicht Strukturen (aber das ist wohl ein ganz eigenes Thema für einen Blogartikel).



Unternehmen, Rollen und die Illusion der Passform


Natürlich versuchen Unternehmen schon, Macht an Rollen statt an Personen zu binden. Genau das passiert mit jeder Stellenausschreibung: Eine vorgefertigte Rolle wird bereitgestellt; mit Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Anforderungen.


Aber so funktioniert es eben nicht. Wie kann mir die Kleidung einer anderen passen, wenn sie auf deren Maß geschneidert wurde? Jede Rolle benötigt Anpassungen, damit sie zu den Menschen passt, die sie ausfüllen sollen.

Der aktuelle Zertifizierungswahn verstärkt dieses Missverständnis: Wir glauben, dass Rollen dann passen, wenn Menschen die richtigen Stempel im Lebenslauf tragen. Doch Zertifikate sind Eintrittskarten, keine Passformgarantie. So lassen sich nur Schablonen besetzen, keine echten Rollen gestalten.


Was wir brauchen, ist ein Perspektivwechsel: Rollen sollten kompetenzbasiert und ko-kreativ entstehen, d.h. aus dem, was Organisationen suchen, und dem, was Menschen mitbringen. Erst in dieser Passung verwandelt sich geliehene Macht in echte Wirksamkeit.



Fazit


Geliehene Macht erinnert uns daran, dass wir nie mehr sind als die Summe der Rollen, die wir gerade ausfüllen und nie weniger.

Die eigentliche Frage ist also nicht: Welche Macht habe ich?,

sondern: Wie gestalte ich die Rolle, die mir anvertraut ist?


 
 
 

Kommentare


bottom of page